Es braucht ein ganzes Dorf!
Vor einiger Zeit haben wir argumentiert, dass die vermeintliche Flüchtlingskrise in Europa auch als Chance für eine ökonomische und kulturelle Weiterentwicklung der Kommunen gestaltet werden könnte, wenn man die Aufnahme und Integration von Geflüchteten freiwillig und dezentral mit den Kommunen organisiert und mit einer Investitionsinitiative verbindet. In einer Replik auf unseren Beitrag schreibt Nils Heisterhagen, dass die Entscheidung über die Verteilung von Flüchtlingen beim Nationalstaat verbleiben muss, ohne jedoch einen Vorschlag zu machen, wie die ‚Verteilungs-Blockade‘ zwischen den europäischen Nationalstaaten, die nun schon seit über drei Jahren andauert, auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden könnte.
Die beiden Beiträge spiegeln eine größere Debatte innerhalb der europäischen Sozialdemokratie wider. Sie folgt der Frage, ob eine progressive und solidarische Politik nur innerhalb des Nationalstaats möglich ist oder ob sie auch europäisch, also transnational zu verfolgen und durchzusetzen ist. Am Beispiel der europäischen Flüchtlingspolitik: Die nationalen Regierungen Europas haben es trotz großer Anstrengungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments nicht geschafft, sich auf eine solidarische Verantwortungsteilung für die Aufnahme und Integration der ankommenden Schutzsuchenden zu einigen.
Das Verharren in einer intergouvernementalen Logik europäischer Integration, auf der Heisterhagen beharrt, hat die Krise nicht gemindert, sondern eher verschärft. Bisher ist jeder Appell an die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten verhallt, während sich auf der Ebene der Kommunen Städte wie Amsterdam mit Athen solidarisch gezeigt haben und Asylsuchende aus der einen Stadt in der anderen aufgenommen haben.
Unser Vorschlag, die Gemeinden zu stärken und zugleich die Asylblockade innerhalb der EU lösen zu können, basiert auf der Überzeugung, dass Europa eine wirtschaftliche und demokratische Wiederbelebung ‚von unten‘ benötigt. Viele Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union haben nach der Finanzkrise 2008 die Erfahrung gemacht, dass die kommunale Infrastruktur verfällt, dass Schwimmbäder, Schulen und Straßen reparaturbedürftig bleiben und der öffentliche Nahverkehr zu wünschen übrig lässt. Hinzu kommt in vielen Mitgliedstaaten noch eine rigorose Spar- und Austeritätspolitik im sozialen und kulturellen Bereich, die es vielen Menschen erschwert hat, die eigene Selbstwirksamkeit zu spüren.
Die Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie auf kommunaler Ebene hat nichts mit ‚postmoderner Profilierungssucht‘ zu tun, sondern besinnt sich auf die Kommune als Ort, wo Staatlichkeit fassbar ist.
Das Verbinden der Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden mit Investitionen in die kommunale Infrastruktur ist deshalb auch keine rein ökonomische Transferaktion, wie Heisterhagen unseren Vorschlag interpretiert. Es schafft vielmehr die Grundlagen dafür, dass Menschen keine Angst vor Konkurrenz um knappe Ressourcen zu haben brauchen, sondern Solidarität mit anderen leben können. Das Zusammenleben von Menschen in einem Gemeinwesen ist immer geprägt von Aushandlungsprozessen darüber, was als gerecht empfunden wird.
Unser Vorschlag beinhaltet deshalb nicht nur Investitionen im Gegenzug für die Aufnahme, sondern auch eine Partizipationsinitiative durch die Bildung von beratenden Multi-Stakeholder-Beiräten auf kommunaler Ebene. Unter Beteiligung aller wichtigen Stakeholder einer Gemeinde sollen diese in einem deliberativen Verfahren eine Empfehlung erarbeiten, ob die Gemeinde zur Aufnahme bereit ist und auch wie sie diese gestalten will. Das gibt den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihre Selbstwirksamkeit zu erfahren, indem ihnen ein Mitspracherecht gegeben wird und sie zudem noch mitbestimmen können, wofür die zusätzlichen Mittel verwendet werden können. Das schafft eine Kommune, die unter Beteiligung möglichst vieler Perspektiven versucht, alle mitzunehmen, und gleichzeitig auch die Mittel hat, das zu tun.
Die Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie auf kommunaler Ebene durch beratende Multi-Stakeholder-Beiräte und Bürgerhaushalte ist eine mögliche Antwort auf die Legitimationskrise der gegenwärtigen liberalen Demokratien. Das hat nichts mit ‚postmoderner Profilierungssucht‘ zu tun, sondern besinnt sich auf die Kommune als Zentrum demokratischer Aushandlungsprozesse und als Ort, wo Staatlichkeit für die meisten Bürgerinnen und Bürger fassbar ist: Hier wird die Daseinsvorsorge geleistet und hier findet auch Integration konkret statt. Die Kommunen übernehmen die Hauptaufgaben der Integration in den Arbeitsmarkt, der Versorgung mit Wohnraum, Organisation von Sprachkursen, sowie Gewährleistung des Kita- und Schulzugangs. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips ist es deshalb nicht verwunderlich, dass sie zunehmend selbstbewusster ein größeres Mitspracherecht einfordern.
Zudem gibt es nach internationalem (Genfer Flüchtlingskonvention und Zusatzprotokoll), europäischem und nationalem Recht in Deutschland zwar keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Geflüchtete, durchaus aber auf die Prüfung des Schutzanspruches. Das heißt, der Nationalstaat ist hier völlig unabhängig von kommunalen Zusagen und Angeboten verpflichtet, ein Verfahren zur Prüfung durchzuführen. Genau das ist jedoch das Dilemma, in dem Europa sich mit den bisher geltenden Dublin-Richtlinien befindet: Sobald ein schutzsuchender Mensch in Europa ankommt, ist faktisch der Ersteinreisestaat für das Verfahren zuständig.
Kommunen sollen dort als relevanter politischer Akteur kooperativ aktiv werden können, wo sie auch die Hauptaufgaben übernehmen.
Die EU-Mitgliedstaaten waren bisher nicht in der Lage, zu einer fairen Verteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten zu gelangen. Wir sehen in dem Angebot der freiwilligen Aufnahme durch die europäischen Kommunen deshalb eine Chance für die Nationalstaaten der EU, einen Ausweg aus der momentanen politischen Blockade zu finden. Anstatt weiterhin auf einem top-down Politikverständnis zu beharren, könnten die Mitgliedstaaten, die prinzipiell willens sind eine solidarische und gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik zu verfolgen, das Angebot ihrer Kommunen annehmen und somit zu einer nachhaltigen und solidarischen Aufnahme gelangen. Dass Kommunen, die zusätzlich Verantwortung übernehmen, finanziell gestärkt und nicht mit den Kosten alleingelassen werden sollten, ist nicht ‚latent undemokratisch‘ oder ‚unklug‘, sondern elementarer Bestandteil einer nachhaltigen und vernünftigen Politik im Dienste der Gerechtigkeit.
Heißt, die europäischen Kommunen stärken im Folgeschluss auch, dass diese zukünftig eigenmächtig über den Atomausstieg bestimmen können (wie Heisterhagen suggeriert)? Natürlich nicht, denn auch hier gilt: Kommunen sollen dort als relevanter politischer Akteur kooperativ aktiv werden können, wo sie auch die Hauptaufgaben übernehmen. Durch die Einbeziehung aller wichtigen Akteursgruppen in den Aufnahme- und Integrationsprozess und da die Entscheidung auf freiwilliger Basis ‚von unten‘ und nicht ‚top-down‘ erfolgt, wird die demokratische Legitimation kommunaler Aufnahme nicht ausgehöhlt, sondern gestärkt.
Darüber hinaus erlaubt dieser Vorschlag es, Integration als ganzheitlichen Prozess zu begreifen, der sowohl Neuankömmlinge als auch Ortsansässige betrifft. Die freiwillige dezentrale Ansiedlung von Geflüchteten bietet Kommunen die Chance zu einer partizipativ und gemeinsam gestalteten Entwicklung, den Geflüchteten bietet sie Mitbestimmung bei der Entscheidung, wo sie sich niederlassen sowie Wissen und Informationen über ‚ihren‘ Ort von Beginn an. Das fördert Teilhabe und ein Gefühl des ‚Willkommen-Seins‘.
Heisterhagen sieht in unserem Vorschlag die Gefahr der Stärkung der Rechten und der Spaltung der Gesellschaft. Wir denken, die Kombination von Freiwilligkeit, Partizipation und Investitionen ist zentral, um die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. Indem wir Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen partizipieren lassen, anstatt die Aufnahme zu verordnen, geflüchtete Menschen mitentscheiden können, wo sie sich niederlassen wollen, und durch finanzielle Mittel die Grundlagen geschaffen werden, dass Menschen sich wieder überlegen können, was für sie eine lebenswerte Stadt oder Gemeinde ausmacht und wie die Zukunft gemeinsam gestaltet wird, entziehen wir den Rechten ihre Mobilisierungsgrundlage.
Menschen ernst zu nehmen, ihnen zuzutrauen, dass sie sich für ihr Gemeinwesen engagieren, wenn sie die materiellen Grundlagen dafür haben, den Menschen Mut, statt Angst zu machen, das sind die Mittel, mit denen wir den sozialen Zusammenhalt stärken. Deswegen stellen wir Heisterhagens Beitragstitel ‚es braucht kein Dorf‘ unseren Titel ‚es braucht ein ganzes Dorf!‘ entgegen.